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Aus dem Indien-Brief

Irgendwie hat es sich eingebürgert, dass ich am Anfang eine kurze, momentane Standortbeschreibung durchgebe, sozusagen als Absprungplattform, um von hier aus in die Tiefen Indiens einzutauchen. Also, schliesse deine Augen und höre zu. Schliesse deine Augen jetzt! Du schummelst!

Anyway, ich liege rücklings auf einer dünnen, etwas muffig riechenden Matratze in einer kleinen Lehmhütte mit Schilfdach. Die Augen geschlossen, halb dösend, halb über den nächsten Rundbrief nachstudierend. Geklapper von Blechgeschirr beim Abwasch dringt an mein Ohr. Fetzen von Bob Marleys "No Woman No Cry" wehen vom nahen Restaurant herüber.

Als ständiger Hintergrund das Rauschen der Wellen des Arabischen Meeres, die kurz vor dem Strand brechen und das salzige Wasser über den Sand hinaufschieben.

Mal etwas weiter, mal etwas weniger weit.

Wie wenn die Wellen in endloser Mühsal versuchen würden, die Kokospalmen zu erreichen, es aber nie schaffen und doch immer wieder von neuem probieren.

Eine freche Ameise krabbelt über meinen grossen Zeh und ich beschliesse, dass ich so nirgends hinkomme. Ich verlagere meinen Liegeort in die Hängematte nach draussen. Vorher vertilge ich noch den letzten Rest der Ananas, die ich gestern auf dem Markt erstanden habe. Fein!

Bald wird es mir aber zu heiss in der Sonne und ausserdem rauscht das Meer, es ladet zum Bade. Also nix wie hinein ins salzige Nass.

Der Strand ist spärlich bevölkert. Ein paar Althippis mit buschigen  Bärten und verfilzten Haaren am Rauchen, eine Gruppe Mädels in knappen Bikinis am Sonnenbaden, ein Pärchen, das eng umschlungen nebeneinander sitzt und auf den Sonnenuntergang wartet.

Es ist Mittag.

Ein wohlbeleibter Mann liegt wie ein Stück Fleisch auf der Schlachtplatte auf seiner Bastmatte. Die Badehose ist irgendwo in den dunklen Abgründen seiner Arschspalte verschwunden.

Ein Inder versucht seine kleine Holztrommel loszuwerden und  pöpperlet nervös auf dem Fell herum, aber niemand interessiert sich für ihn. Da hat die Marktfrau, die einen Korb voller Früchte auf dem Kopf balanciert, schon mehr Glück. Das verliebte Pärchen kauft ihr eine Papaya ab.

Und eine faule Papaya war‘s auch, wovon ich in Varanasi krank  geworden bin. Eigentlich ist das gelogen, aber irgendwie muss ich ja den Bogen spannen.

Zurück, wo ich letztes Mal aufgehört habe.

Varanasi ist für Hindus eine heilige Stadt. Wer hier im Fluss Ganges badet, der tut was für sein Seelenheil. Und wer gar das Glück hat, hier zu sterben und seine Überreste am Ufer verbrannt und seine Asche in den Ganges gestreut zu haben, der kommt direkt ins Nirwana, ohne die lästigen Umwege über andere Leben. Kein Wunder reisen Gläubige aus dem ganzen Land hierher, um hier zu sterben, oder, wenn sie noch nicht alt genug sind, wenigstens um ein Bad zu  nehmen.

Aber nur wer eines natürlichen Todes stirbt, hat das Recht, verbrannt zu werden. Kranke oder Ermordete werden direkt im Ganges versenkt. Das Ganze ist eine ziemliche Massenabfertigung. Mindestens 300 Tote werden täglich beim Kremationsplatz am Gangesufer am Rande der Altstadt verbrannt. Ständig brennen mehrere Feuer, Boote voller Brennholz liegen vor Anker, Trauerprozessionen mit aufgebahrten und in Tücher gewickelten Leichen kommen anmarschiert, begleitet von Trommlern und Bläsern und betenden Priestern.

Die Toten werden im Ganges gewaschen und Priester rezitieren Gebete. Dann wird der Leichnam auf den Holzstoss gelegt und verbrannt. Später wird der Schädel gebrochen und Überreste und Asche werden in den Ganges geworfen. Weinen ist nicht erlaubt.

Und Frauen auch nicht. Aus Angst, dass sich die eine oder andere  Witwe zu ihrem Mann gesellen würde, um mit ihm bei lebendigem Leibe zu verbrennen, wie’s früher Ganges und gäbe war.

Vor ein paar Jahren wurden übrigens fleischvertilgende Schildkröten ausgesetzt, um unter Wasser ein bisschen aufzuräumen. Sie sind   spurlos verschwunden... (Das ist wahr!)

Indien auf einem Stück Papier einzufangen ist wie einen Regenbogen mit einem Schwarzweissfilm in der Kamera zu fotografieren.

Oder wie Beethovens Neunte mit der Blockflöte zu spielen.

Es kann ihm nicht gerecht werden. Alle neun Sinne sind ständig aktiviert: Sehsinn, Hörsinn, Tastsinn. Riechsinn, Schmecksinn, Irrsinn, Blödsinn, Stumpfsinn und Kerosin. (Letzteres für die Benzinkocher.)

Der Ausblick von meiner Gästehausterrasse habe ich ja schon im    letzten Mail beschrieben: Badende Pilger, Wäsche waschende Waschleute, Cricket spielende Kids, bettelnde Sadus (das sind besitzlose  Pilger, die meist nur mit einem Tuch bekleidet und ständig bekifft sind), neugierige Touristen, aufdringliche Masseure, Kühe, Schweine, Ziegen und Ratten. Dazu Geschrei, Gelächter, Glockengebimmele vom Hindutempel nebenan und manchmal der scheppernde Singsang eines Muezzins aus einem Moscheelautsprecher.

Indiens Food ist eigentlich sehr lecker, aber Hygiene ist kein indisches Wort. So wurde ich zum ersten Mal in zehn Monaten reisen krank.

Nur einen Tag zwar, aber so richtig mit Durchfall, Erbrechen, Fieber und Schüttelfrost und allem, was so dazugehört. Dem indischen Dreck ist nicht mal mein Kuhmagen gewachsen. Als das Fieber die 40 Grad Marke überschritten hatte und noch weiter stieg, gab ich das Vertrauen ins hauseigene Verteidigungssystem auf und liess einen Dökti45 kommen, der mir eine Handvoll Tabletten und Antibiotika  verschrieb.

Beruhigenderweise logierten in der Herberge auch ein Ärztepaar aus Deutschland und eine Krankenschwester aus Basel sowie einige nette, junge Japanerinnen, die rührend um mein Wohlergehen besorgt   waren. So wurde ich (fast zu) schnell wieder gesund.

Da habe ich von Nepal aus doch extra meine schweren Sachen wie Zelt, Schlafsack und Campingausrüstung heimgeschickt und was macht Sam, der Idiot? Er kauft sich ein Djembe. Zwar nur ein kleines, aber der Rucksack ist jetzt wieder gleich voll wie zuvor. Und  betrommeln tue ich’s auch fast nie. Jänu, war nur zwölf Stutz.

Vielleicht vergess ich‘s irgendwo mal.

Dann wurde ich noch zu einer hinduistischen Hochzeit eingeladen. Von einer Japanerin, die eine Freundin der Braut ist und in Indien ein Praktikum macht, zusammen mit einem Deutschen und einem    anderen Schweizer.

Die Inder sehen das nicht so eng mit der Gästeliste...

Es war ein ziemliches Spektakel. Zuerst rückte der Bräutigam an, hoch zu Ross, wild umtanzt von seinen Freunden und begleitet von schräger Guggenmusik und Lampenträgern. Und diese Lampen waren nicht etwa zierliche, farbige Lampions, wie sie wahrscheinlich in Japan benützt würden, sondern neonfarbige Leuchtstoffröhren auf den  Köpfen von Schulbuben, welche durch Verlängerungskabel  miteinander verbunden waren. Ein etwas bizarres Bild. Später traf auch die reich geschmückte und königlich gekleidete Braut ein.

Wenn die beiden so unter dem Baldachin auf ihren Stühlchen sassen und in die Kameras lächelten, sahen sie aus wie Prinz und Prinzessin aus Tausendundeiner Nacht.

Die Vermählungszeremonie dauerte endlos lange und war mit     merkwürdigen Ritualen gespickt. Pyrotechnische Effekte wie Feuerchen anzünden und verschiedene Körner und Kräuter rein-schmeissen fehlten ebenso wenig wie choreografische Elemente. Zum Beispiel musste das Brautpaar sieben Mal ums Feuer herumgehen.

Der Priester arbeitete sich derweilen durch ein veritables Gebetsbuch.

Natürlich hatten alle diese Handlungen ihren Sinn, der mir aber mangels Sprach- und Kulturkenntnissen verschlossen blieb.

Die ganze Szene war aber keine besonders feierliche Angelegenheit. Gäste schwatzten, kamen und gingen, Häppchen wurden verdrückt und Musik von angrenzenden Räumen schallte dazwischen.

Anschliessend war eine Stunde ohrenbetäubende Disco mit indischen Pophits angesagt, wo auch Schwiegervater und Grosstante das Tanzbein schwangen. Später wurde gespachtelt, was der Magen hielt.

Das Buffet war vorzüglich, muss ich sagen.

Die Hochzeit war insofern ungewöhnlich, als dass sie erstens eine  Liebeshochzeit war und keine von Eltern oder Verwandten arrangierte (wie durchaus noch üblich), und zweitens war es eine Hochzeit  zwischen verschiedenen Kasten.

Das Kastenwesen ist zwar offiziell abgeschafft (die Bevölkerung darf ihre Kleider nur noch in Truhen aufbewahren), spielt aber immer noch eine wichtige Rolle im alltäglichen Leben.

Der Taj Mahal ist die berühmteste Sehenswürdigkeit Indiens und eines der schönsten Gebäude der Welt. Wenn durch den Morgensmog die ersten Sonnen-strahlen seine Marmorkuppel streicheln und dem  weissen Gestein einen goldenen Schimmer verleihen, überkommt dich unweigerlich ein ehrfürchtiges Staunen.

Perfekte Symmetrie, graziöse Schlichtheit, vollkommene Ästhetik.

Eigentlich traurig, dass die Person, für die dieses Kunstwerk gebaut worden war, gar nie die Gelegenheit hatte, es bewundern zu können. Sie war nämlich tot. Immerhin darf sie nun in diesem prächtigsten Grabmal der Welt in Ruhe frieden, Tschuldigung, in Frieden ruhen.

Naja, mehr oder weniger, die täglichen Horden knipswütiger Touristen stören ihre letzte Ruhe wohl ein bisschen.

Genau genommen war sie beziehungsweise ihr Dahinscheiden der Grund für das Bauunterfangen. Die Dame, nennen wir sie mal Liselotte, war die Lieblingsfrau des Sha Jahan, des fünften Gross-moguls. Sie starb bei der Geburt ihres vierzehnten Kindes.

Auf dem Sterbebett bat sie ihren Mann, der Welt zu zeigen, wie sehr er sie liebte.

Frauen, ich sage euch, diese Forderung ist eine der gemeinsten, aber auch mächtigsten, die es gibt. Es wurden schon Kriege geführt und Reiche zerschlagen, um Frauen ihrer Liebe zu versichern.

Sogar dem sonst so weisen König Salomo wurde dies zum Verhängnis.

Der Legende nach wurden die Haare des Shas über Nacht grau, als er vom Tod seiner Frau erfahren hatte und er trauerte zwei Jahre lang.

Er gab den Beruf des Herrschers auf, widmete sich ganz seiner neuen Leidenschaft, der Architektur, und baute seiner Frau das prächtigste Grabmal der Welt.

Grabmal - nein, grab doch du mal!

Nach Bangladesch fuhr ich nach Nordostindien, um einen Freund zu besuchen, den ich im Zug von Südindien nach Kolkata kennengelernt hatte. Er heisst Welson, ist zwanzig, gehört zum Stamm der Kuki, hat in Südindien in einer Bibelschule studiert und war auf dem Heimweg zu seiner Familie als ich ihn traf. Was er noch nicht wusste war, dass seine Eltern von Terroristen eines anderen Stammes umgebracht worden waren. Sein Lehrer hatte es mir vor der Abfahrt erzählt, wollte aber, dass Welson dies von seinen Verwandten erfährt. Es ist ziemlich schwierig, mit jemandem ein Gespräch zu führen, der gerade seine Eltern verloren und keine Ahnung davon hat. Du kannst nicht gut fragen: "Wie geht's der Familie?" "Was machen deine Eltern?" Abgesehen davon, dass die Sache an sich natürlich eine Tragödie ist.

 Auf dem Weg in den Norden kam ich am verschifftesten53 Gebiet der ganzen Welt vorbei. Es liegt im Bundesstaat Meghalaya. Der Rekord liegt bei über zwanzig Meter Wasser in einem Jahr. Bin mir aber nicht sicher, ob damit die Länge oder die Breite oder die Höhe gemeint ist. Der Durchschnitt liegt bei zwölf Meter, was immer noch ziemlich feucht ist. Und prompt goss es beide Male wie aus Kübeln, als ich dort durchreiste.

In Nordostindien kämpfen Terroristengruppen verschiedener Stämme gegen-einander und gegen die Regierung, von der sie Autonomie und unabhängige Staaten verlangen. Ermordungen und Anschläge sind nicht selten. Ein Druckmittel gegen die Regierung sind Streiks, verordnet von der einen oder anderen Gruppe. (Und du machst besser mit, sonst gibt's Prügel oder du bezahlst noch mehr Schutzgeld als bis anhin.)

 An solchen Streiktagen sind alle Läden geschlossen und kein Fahrzeug verkehrt. Die Strassen werden zu Cricket- oder Fussballfeldern umfunktioniert. In Diphu, dem Städtchen, wo hoffte, nochmals auf Welson zu stossen, müssen sie Profis in diesen Sportarten sein, denn im letzten Jahr wurde an 120 Tagen gestreikt!

 Dass dies für die Wirtschaft nicht gerade sehr förderlich ist, liegt auf der Hand. Welson wohnte nicht mehr in Diphu, sondern in einem abgelegenen Dorf bei Verwandten. Es wäre sehr schwierig und auch nicht ganz ungefährlich gewesen, dorthin zu gelangen. Zuerst per Bus, dann 25 Kilometer Fussmarsch durch den Wald. Ich liess ihm eine Nachricht zukommen und wartete etwa eine Woche, aber es hiess, er sei krank und könne mich nicht aufsuchen.

Ich lernte in Diphu aber einen netten Jurastudenten namens Pankaj (sprich Pankatsch) kennen, der mich bei sich aufnahm und mit ihm und seinen Freunden machte ich Diphu unsicher. Obwohl Diphu eigentlich auch ohne mein Zutun nicht gerade eine Oase der Sicherheit war...

Diphu ist kein Superturbo, was den technischen Fortschritt anbelangt. (Das Wort Fortschritt (und nicht Aufstieg) impliziert, dass die Entwicklung auf der horizontalen, nicht auf der vertikalen Achse basiert, es sagt also nichts aus über den Wert oder die Qualität der Veränderung). Die meisten Familien wohnen in einfachen Bambus- und Lehmhäusern (was in diesem Klima auch völlig ausreicht), kochen auf Kerosinkochern und Wasser gibt's per Eimer und dank Muskelkraft aus dem Ziehbrunnen. Ihr hättet die Augen der Nachbarn sehen sollen, als ich meinen batteriebetriebenen Minirasierer in Betrieb setzte und damit das Stoppelfeld auf meiner Visage bearbeitete. Sie wurden so gross wie zwei Spiegeleier, die auf mittlerer Stufe beidseitig gebraten und auf einem Bett aus Röschti mit Speckwürfeli und Zwiebeln, garniert von einem Tomaten- und Gurkenbouquet und zu einem Glas herbem Bordeaux serviert werden. Hoppla, dieser Vergleich ist mir wohl ein bisschen aus dem Ruder gelaufen beziehungsweise von der Zunge gefallen.

Kaufhäuser und Supermärkte kennt man nicht. Geschoppt wird auf dem Markt oder in kleinen Minilädelchen. Und es gibt sie also noch, die Banken, die ohne Kompiuter auskommen, wo alles sorgfältig in dicke, staubige Bücher eingetragen wird. Und aus diesen wird es in noch dickere, noch staubigere Bücher übertragen. Immerhin existiert ein Internetkafi in Diphu mit einigen zwar ultralangsamen, aber funktionstüchtigen Surfmaschinen.

Während meines Aufenthalts in Diphu starb Pankajs Grossmutter. Die Hindus haben ziemlich merkwürdige Sitten, wenn es um Bestattungen geht. Pankaj durfte fünf Tage lang nur Reis und Früchte essen, aber ja kein Salz, durfte kein Geschirr abwaschen und den Boden nicht wischen. Am fünften Tag kam ein Priester vorbei, murmelte ein paar Gebete und braute ein Getränk, das unter anderem diverse Flüssigkeiten von der Kuh enthielt. Hatten sie mir natürlich erst erklärt, als ich schon gekostet hatte. Dafür sind meine Sünden jetzt vergeben und das ist immer nützlich, nicht wahr. Die Söhne der Verstorbenen haben‘s noch schwieriger. Sie dürfen drei Wochen lang nur Reis und Früchte essen, müssen auf dem Boden sitzen und weisse Kleidung tragen und dürfen von niemandem berührt werden. Der älteste Sohn muss gar ein ganzes Jahr in Weiss herumwandeln.

Die Gegend sieht nicht oft Ausländer. Ab und zu fängt ein Student ganz aufgeregt mit dir zu reden an und meint, es sei das erste Mal, dass er sich mit einem Ausländer unterhalte. Und sobald du etwas aus den Städten hinaus in die Dörfer gehst, bist du oft der erste Ausländer, den die Einheimischen je gesehen haben. Abgesehen von denen, die einen Fernseher ihr Eigen nennen dürfen. In Diphu wurde ich etwa fünf Mal ins selbe Fotostudio geschleppt, jedes Mal von anderen Leuten, um sich mit mir auf Papier zu verewigen. Mitunter kann es auch mühsam werden, wenn dich ein neuer "Freund" seiner ganzen Verwandtschaft und all seinen Kollegen vorführen will. Familien sind in Ordnung, da gibt's wenigstens immer einen Tee und etwas Süsses und man sieht in fremde Haushalte hinein. Aber die Kollegen, die meist auf der Strasse herumhängen, interessieren mich nicht sonderlich und die Gespräche sind immer genau dieselben. Oftmals schwingt irgendwo im Hinterkopf dieser Menschen der Wunsch mit, irgendwie und vielleicht mit meiner Hilfe ins Ausland, wenn nicht sogar in die Schweiz zu gelangen. Die Schweiz ist der Inbegriff des Paradieses für die meisten Bangladescher und Inder. Friedlich, mit wohlhabenden, glücklichen Menschen und wunderbarer Natur. Grösstenteils ist dieses Image geprägt worden von der indischen Filmindustrie, welche während der Musik- und Tanzeinlagen, die in allen Bollywood-Filmen vorkommen, oft die heile Schweizer Alpenwelt als Hintergrundkulisse einsetzt.

Aus dem Mongolei-Brief

cайн уу zusammen!

Ich weiss ja nicht wie‘s euch geht, aber ich habe bevor ich hierher kam nicht viel über die Mongolei gewusst. Darum seien euch hier mal frischfröhlich ein paar Fakten an den Kopf geschmissen:

Die Mongolei ist das siebzehntgrösste Land der Welt, zirka dreimal so gross wie Frankreich, hat aber nur knapp zweieinhalb Millionen Einwohner. Mehr als ein Drittel davon lebt in der Hauptstadt  Ulaanbaatar. Das macht auf dem Land 1.52 Leute pro Quadratkilometer. (Also in etwa ein Mongole plus ein Oberkörper plus ein kleiner Finger) und in der Stadt 164500 Leute pro Quadratkilometer.

Die Mongolei erlebte steile Ups und Downs in ihrer Geschichte. Im dreizehnten Jahrhundert und unter Dschingis und anderen Khans war das mongolische Empire das grösste Weltreich, das es je gegeben hat und erstreckte sich von Ungarn bis Korea und im Süden bis Vietnam.

Mit der Übernahme des tibetischen Buddhismus haben sich die    Mongolen beinahe selbst ausgerottet. Die buddhistischen Mönche (Lamas) durften nämlich nicht heiraten, geschweige denn Kinder   haben und am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts waren ein Drittel der mongolischen Männlichkeit Lamas.

Die Mongolei wurde dann von der Sowjetunion besetzt, welche in bester kommunistischer Tradition die Kinderproduktion wieder      ankurbelte. Zum Beispiel bekamen Frauen mit fünf Kindern den  "Orden der glorreichen Mutterschaft zweiter Klasse" und Frauen mit acht den "Orden der glorreichen Mutterschaft erster Klasse",   verbunden mit einer grosszügigen finanziellen Abfindung.

1991 wurde die Mongolei unabhängig und damit endete auch die Unterstützung Russlands, welche die Mongolei als Vorzeigeobjekt sowjetischer Entwicklungshilfe benutzt hatte und als Folge davon kollabierte die mongolische Wirtschaft. In den frühen 1990ern         erreichte die Inflationsrate 300% (2000: 9.5%), Esswaren und Baumaterial fehlten und viele Menschen verloren ihren Job. Auch die   traditionelle, nomadische Viehzucht hatte grosse Probleme, weil    wegen   Dürren,  zu viel  Schnee  und  Überweidung  viele   Tiere   verendeten.

Die durchschnittliche Arbeitslosigkeit beträgt 44.5 Prozent, wobei sie bei Männern höher ist und in vielen Orten 75 Prozent keine Arbeit haben.

Im Moment leben noch rund 45 Prozent als Nomaden, doch die Stadtflucht ist erheblich. Ein Hauptproblem ist wieder mal die Korruption. Die Mongolei erhält am meisten Entwicklungshilfe pro Kopf aller    Länder, aber nur ein Bruchteil der Gelder, die in das Land hinein-gepumpt werden, fliesst auch dorthin, wo es sollte. Dafür fahren viele Politiker und Firmenbosse in fetten, schwarzen, japanischen Jeeps über die immer noch katastrophalen Strassen.

Dies und Das:

Asien ist jetzt endlich mal was ganz anderes. Andere Menschen,   andere  Kultur, andere Religion, andere Landschaften, andere  Umgangsformen.

 An die Äusserlichkeiten habe ich mich nach einigen Wochen  mongolischen Lebens gewöhnt. An den Abfall, der überall herumliegt, an die Klapperautos, an die farbigen Kleider. Viele Leute wohnen in Gers  (Jurten). Das sind runde Zelte aus Filz und Fell über einem   Holzrahmen. Alle Nomaden auf dem Land wohnen darin. Sie mögen‘s mobil. Aber auch die Vorstädte bestehen praktisch nur aus Jurten-siedlungen und selbst im Stadtzentrum tauchen sie vielerorts          unverhofft in Hinterhöfen und auf Vorplätzen auf. Die vielen Nomaden, die mit der Hoffnung auf ein besseres Leben in die Hauptstadt ziehen, bringen ihr Haus nämlich gerade selber mit.

Das hat viele Vorteile aber auch einen entscheidenden Nachteil,     nämlich, dass diese Zelte nicht an das städtische Fernwärmeheiz-system angeschlossen sind und nur mittels eines kleinen Holzofens (der gleichzeitig auch als Herd dient) beheizt werden können. Und Holz ist Mangelware.

Manch ein armer Zugezogener hat schon seine Möbel verheizt, um einen rauen Winter überstehen zu können.

Im Moment ist es aber angenehm warm hier und ich geniesse es,   endlich ohne Mütze und Handschuhe nach draussen gehen zu  können. Aber der Frühling kommt erst noch, sagen die Ansässigen, welcher mit seinen plötzlichen Wetterwechseln und starken Winden und Sandstürmen sehr lästig und kalt sein kann. Aber ich und meine Mammutjacke trotzen jedem Wüstensturm.

Allerdings haben die Einheimischen damit begonnen, alle Fenster mit Klebeband fest am Rahmen festzukleben, damit der Sand nicht durch die feinen Ritzen dringen kann. Das hat mich dann doch etwas      nachdenklich gestimmt...

Ulaanbaatar liegt umgeben von Hügeln in einem Kältesee, fünfzehnhundert Meter über Meer. Im Moment ist alles noch ziemlich grau und wüstenhaft. Ein bisschen grüner wird‘s werden im Sommer, habe ich mir sagen lassen. Ein bisschen.

 

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